Jazzline N 77030 (CD) / N 78030 (LP)
ALSO AVAILABLE IN VINYL 180g DIRECT METAL MASTERING
Thinking Out Loud
Beschreibung

Die hohe Kunst moderner Komposition, im Jazz und weit über ihn hinaus
Alles immer wie neu
Wann hat das eigentlich angefangen? Und mit wem? Mit welchen Kompositionen? Plötzlich nämlich hatten die nicht mehr viel (oder gar nichts) mit den klassischen Prinzipien zu tun nach denen Songs entstanden waren zu Zeiten von – sagen wir mal- Irving Berlin und Cole Porter. Entstanden vorzugsweise für Filme oder Broadway-Shows waren ihre Melodien und Harmonien aus Strophe und Refrain für jeden wiederzuerkennen und mit ein bisschen Übung selbst für den Laien nachzusingen. Auf diesem Fundament fußte der Eigensinn des Jazz, der sich ausdrückte in der Improvisation. Seit New Orleans und King Oliver war das so gewesen. Und jetzt? Kaum irgendetwas von all dem war noch gültig in einer Komposition zum Beispiel von Wayne Shorter – denn eigentlich klangen die neu komponierten Jazz-Ideen nun ihrerseits selber wie Improvisationen, sehr kompakt, immer ziemlich virtuos, doch irgendwie auch nicht zu packen - jedenfalls kaum rekonstruierbar nach nur ein- oder zweimaligem Hören. Alles war ganz anders, und alles fast immer wie neu.
Es tut ganz gut, an dieser Stelle diesen Paradigmenwechsel in der populären Musik und im Jazz in Erinnerung zu rufen – weil nämlich der Pianist Jesse Milliner ein paar herausragende Beispiele vorführt für einen weiteren immensen Schritt nach vorn, der sich in vielen Titeln des Albums „Thinking out loud“ offenbart. Milliner, viel beschäftigter Begleiter in den Gruppen von Lee Ritenour, Chaka Khan oder etwa Trilok Gurtu, beherrscht die seit der erwähnten Zeitenwende gültige Handwerksform der Autorenschaft im Jazz mit staunenswerter Perfektion; In „Fragments“ zum CD-Finale fügt sich wie in einer Sammlung von Fragmenten tatsächlich Idee an Idee, gern in immer wieder von neuem gebrochenen Akkordfolgen und leicht verschobenen Rhythmen. Die Motive fixierter Komposition und die Momente des Aufbruchs hinaus ins Freie der Improvisation werden mit der Zeit ganz und gar ununterscheidbar. Und das Hör-Erlebnis ist unbedingt erstaunlich.
Zumal dann, wenn zum Vergleich mindestens noch ein Klassiker der alten Form mit im Angebot ist – in diesem Fall spielt diese Rolle Cole Porters berührende Phantasie vom immer neuen Abschied auf Zeit, der uns jedes Mal „ein wenig sterben“ lässt und stets von neuem die Frage aufwirft, warum nur dieses Leiden nötig sein soll: „Every time we say goodbye I die a little“. Hier ist die vertraute Struktur noch sehr gut zu erkennen – aber als Arrangeur hat Jesse Milliner dem sentimentalen Schlachtross einen besonders eigenständigen Charakter verliehen, um der soulreichen Stimme Gene Moores Jr. mit ihrer vollen Ausdruckskraft das nötige Fundament zu geben. Das Vergnügen ist groß, der Band und dem Chef bei dieser kunstvollen Verwandlung zuzusehen, die diesem starken Stück eine völlig neue und eigene Identität verleiht.
Die Kraftzentren des Pianisten Milliner offenbaren sich aber vor allem im Kernstück des CD-Programms: der dreiteiligen Suite unter dem historisch-programmatischen Titel „Quo Vadis“. Hier weist er beispielhaft den Weg, den es für einen zeitgenössischen Komponisten zu suchen gilt: er lässt all jene Strukturen und Prinzipien vermissen, die für das Jazz-Schreiben in dieser Generation maßgeblich sind und verlässt die handwerkliche Palette, von der sich einer wie er heutzutage üblicherweise bedienen würde. Dabei behält er jedoch das Maß der Dinge im Auge, Ohr und Sinn – Milliner hat nichts von all den Unarten, mit denen Kolleginnen und Kollegen immer nur ums Flirren und Funkeln bemüht sind. Er ist eben gerade kein atemloser Feuerwerker, in dessen Sounds es wie unter Zwang immer bloß raucht und zischt und knallt. „Quo Vadis“ – das heißt für ihn: Feinsinniges Komponieren, nicht überladen. Beredt sein, nicht geschwätzig. Musiker, die dieser Maxime eindrucksvoll folgen, spielen ihm zur Seite (und denken gemeinsam laut mit ihm – „Thinking out loud“).
Naturgemäß liegt die solistische Präsenz oftmals beim Saxophonisten Peter Weniger, der auf Sopran und Tenor einmal mehr die eigene Stimme als eine der stilsichersten und prägendsten des Jazz in Deutschland ausweist. Kein Ton, keine Note, kein Schnörkel ist da zu viel – „Weniger“ ist mehr. Jesse Milliner teilt sich die elektronischen Tastenparts mit Till Sahm, der insbesondere das Sounddesign maßgeblich mitgeprägt hat. Ganz bei sich und faszinierend klingt der Band-Leader vor allem am Flügel. Claus Fischer und Hanno Busch sorgen für Bass- und Gitarren-Profile, Gene Moore Jr. und Anikò Kanthak garantieren Begegnungen mit starken Stimmen. Und neben Rhani Krijas Percussion wird der Schlagzeuger Will Kennedy, viele Jahre und immer wieder das Rückgrat der legendären „Yellowjackets“, auf erstaunlich zurückhaltende Weise zum heimlichen Star dieser Aufnahmen – noch so einer, der nicht dauernd Feuerwerke zünden muss, um stark und unverzichtbar zu klingen: ein Ereignis, nichts weniger.
Jesse Milliner hat dieses eigene Ensemble schon auf zahlreichen Festivals vorgestellt. Dass der Leader außerdem zur professionellen Musik-Ausbildung an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz beiträgt, ist eine Zugabe von besonderem Wert: „Thinking out loud“ lebt von vielen Gedanken, die es sich lohnt weiterzugeben - für die Studierenden wie für den Herrn Professor.
Michael Laages