COUNT BASIE BIG BAND

N 77026Jazzline N 77026 (C) /N 78026 (LP)

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Live in Berlin 1963

Die letzte Veranstaltung in der Geschichte des Berliner Sportpalasts war ein Jazz-Konzert. Benny Goodman blies zum endgültigen Finale. Und auch als 1958 "Halbstarke den Sportpalast zerlegten" (so der damalige Presse-Tenor), war Jazz zu hören gewesen: Das Orchester Kurt Edelhagen hatte das Vorprogramm zu Bill Haleys Rock 'n' Roll-Show bestritten. Fünf Jahre später sitzt wieder eine Big Band auf der Bühne, das Count Basie Orchestra. Ein früherer Besuch fand sogar Eingang in die Literatur: In seinem Roman Der Weg nach Oobliadooh erzählt der in der DDR aufgewachsene Fritz Rudolf Fries von zwei jazzbegeisterten Freunden, die sich - noch vor dem Mauerbau - aus der Sowjetzone zu einem Basie-Konzert im Sportpalast aufmachen.

Es war ein Mehrzweckbau, der als Bühne viele Größen des Jazz erlebte, unter ihnen Lionel Hampton, Stan Kenton, Duke Ellington, Buddy DeFranco, Louis Armstrong, Ray Charles und Norman Granzs Jazz at the Philharmonic-Spektakel. Offizielle Mitschnitte gibt es von Johnny Hodges (Johnny Hodges at Sportpalast, 1961) und der Dutch Swing College Band (The Dutch Swing College Band at the 'Sport Palast' Berlin, 1962, und 20 Years DCB, Live at the Sportpalast, Berlin, 1965).

Das allgemeine Big-Band-Sterben Ende der 40er Jahre war auch an Basie nicht spurlos vorbeigegangen. Der Bandleader musste das Orchester auflösen und seine Formation auf Combo-Größe reduzieren. Aber bereits Anfang der 50er meldet er sich im Großformat zurück. Zu Beginn der 60er gehört seine Big Band längst wieder zu den weltweit beliebtesten. 1963 gewinnt sie einen Grammy in der Kategorie "Best Performance by an Orchestra for Dancing" für das im Januar aufgenommene und von Quincy Jones arrangierte Album This Time by Basie! Hits of the 50's & 60's und taucht in den US-Popcharts auf (am Vorabend der im Folgejahr einsetzenden "British Invasion", einer massiven Medienpräsenz britischer beat music). Der Erfolg lässt die Plattenfirma in Windeseile ein Nachfolge-Album herausbringen, More Hits of the 50's & 60's, später umbenannt in Frankly Basie. Count Basie Plays the Hits of Frank Sinatra.

Zu dieser Zeit befindet sich die Band auf ihrer ersten Japan-Tournee, ein großer Erfolg. Nur kurz nach der Rückkehr in die USA steht die nächste längere Dienstreise an: Europa. Auch in Deutschland stellt man sich vor, Auftritte auf den großen Bühnen der Großstädte gehören genauso dazu wie damals durchaus übliche Stippvisiten in der Provinz, bei den Militärbasen der US-Armee. Von einer solchen berichtet ein Mitarbeiter des Jazz Podium in der Oktober-Ausgabe unter der bemerkenswerten Überschrift "Bierzelt am Straßenrand": 

"Nun frage ich Sie, verehrter Jazzfreund, wie wäre Ihnen zumute, wenn Sie mitten in der Landschaft ein blau-weiß gestreiftes Bierzelt entdeckten, das Sie zu näherer Inspektion verleitet und in dem Sie unter dem Lachen und Johlen einer Maßkrug-verbundenen, sichtlich nicht jazz-, aber amüsierbegierigen, bunten Menschenmenge einem Jimmy Rushing mit der gesamten Basie Band begegnen …? Das Zeltpublikum nimmt Basie hin wie das Bier im Steinkrug. Kein Erstaunen, keine Erregung, nicht einmal besondere Beachtung. Man tanzt, trinkt, amüsiert sich." Garniert wird der bunte Bericht durch ein Bierzelt-Foto des schwergewichtigen Rushing - Bildunterschrift: "Knackwurst-Blues" … 

Ein gänzlich anderes Ambiente bot das Gastspiel in der Berliner Sporthalle (und man darf dankbar sein, dass die Wort-Kreation eines "Currywurst-Blues" es damals nicht ins Licht medialer Öffentlichkeit geschafft hat). Rushing kokettierte selbst mit seinem Körpervolumen und nahm in eben jenem Jahr – 1963 – das Album Five Feet of Soul auf, eine Anspielung auf seinen Spitznamen "Mr. Five by Five". Der gleichnamige Song mit dem Bekenntnis "He's five feet tall and he's five feet wide" war schon in den 40ern zu seinem theme song geworden und durfte somit auch im Berliner Programm nicht fehlen. 

Die Präsenz des Blues-Shouters bedeutete eine vorübergehende Rückkehr zur Band. Rushing war bereits von 1935 bis 1948 Sänger bei Basie gewesen. Joe Williams hatte 1954 seine Nachfolge angetreten und das Orchester 1961 verlassen, um eine Solo-Karriere aufzubauen. Er sollte aber in den folgenden Dekaden – wie Rushing auch - immer wieder einmal mit ihm auftreten.

Williams' Engagement bei Basie fiel in die Anfangszeit eines 1952 neu formierten Orchesters, das inoffiziell unter dem Namen The New Testament Band operierte – eine nominelle Abgrenzung zur Old Testament Band der 30er und 40er Jahre. Während die frühere Ausgabe das individuelle und damit das solistische Moment stärker betonte, gewinnt nun das Ensemblespiel und damit das Arrangement an Bedeutung. Dies hat mittlerweile einen Grad von Schliff und Präzision erreicht, dass immer häufiger ein neuer, durchaus paradoxer Begriff kursiert: Die Band gilt von nun als eine swing machine. Einen nicht unwesentlichen Anteil daran hatte Neil Hefti, der wohl wichtigste Arrangeur der New Testament Band, und er war sich seines Stellenwerts sehr wohl bewusst: "Ich glaube aufrichtig, dass meine fünfzig Arrangements für Basie ihn vor dem Untergang bewahrten und für die zwei Millionen Dollar verantwortlich sind, die er jährlich einnimmt. Es ging nämlich schlicht um Leben oder Tod der Band, denn ganz offensichtlich funktionierte der Vorkriegssound nicht mehr. Es war eine musikalische Herzverpflanzung, und sie hat funktioniert." (zit. n. Nolden 1990, S. 60)

Dass sie funktionierte, davon konnte sich auch das Berliner Publikum überzeugen. Der Auftritt folgte einer wohlkalkulierten Dramaturgie. Der Anfang ist ein moderater, mit Ellingtons "In A Mellotone", "Moon River" (dem einzigen Titel aus dem Grammy-prämierten Hits of the 50's & 60's) und "Misty". Mit dem von Quincy Jones arrangierten "Count 'Em" (aus dem ebenfalls 1963 eingespielten Li'l Ol' Groovemaker … Basie!) nimmt die Band langsam Fahrt auf, um dann mit Jimmy Rushings Intermezzo einen ersten Höhepunkt anzusteuern – ein Hauch alter Kansas City style in neuem Gewand. "The Swingin' Shepherd Blues" liefert ein Paradebeispiel für Basies pianistische Ökonomie, jenes sparsame "pling-pling" (oder "bink-bink!", wie es Henry Miller in seinem griechischen Reisetagebuch umschrieb). Wie sehr bei ihm die Kunst des "weniger ist mehr" vor allem eine Kunst perfekten timings war, demonstriert die Band auf unwiderstehliche Weise in Heftis "Lil' Darlin'" – einem charmanten Stückchen Musik, das im falschen Tempo und ohne jenes timing gespielt, zur Belanglosigkeit verkommt. Was dann mit "One O'Clock Jump" und "Jumpin' at the Woodside" folgt, ist ein Finale furioso. Und das Count Basie Orchestra zeigt, dass es so viel mehr war als eine swing machine: Es schwitzt, kocht und dampft …

Karsten Mützelfeldt