ELLA FITZGERALD

N 77027

Jazzline N 77027 (CD) / N 78027 (LP)

ALSO AVAILABLE IN VINYL 180g DIRECT METAL MASTERING

LIVE IN COLOGNE 1974

1958 öffnet die Kölner Sporthalle erstmals ihre Pforten. Von nun an wird sie vier Jahrzehnte lang bis zu ihrem Abriss die wichtigste Veranstaltungshalle der Domstadt sein - nicht nur für Sport-Events, auch für Musik, von der schunkelnden Karnevalsgaudi bis zum Frank-Zappa-Konzert. Der wohl geschichtsträchtigste Abend findet am 13. November 1976 statt: Wolf Biermann sorgt für einen denkwürdigen vierstündigen Auftritt, der drei Tage später seine Ausbürgerung aus der DDR zur Folge hat. Aber auch die Jazz-Prominenz schaut gelegentlich vorbei – wie Ella Fitzgerald am 1. Februar 1974. Eine Woche zuvor hatte ihre Deutschland-Tournee begonnen, mit Gastspielen in Münster, Düsseldorf, Frankfurt, Karlsruhe, Stuttgart, Ulm, Saarbrücken, Hamburg, Kiel, Hannover, Essen, Ludwigshafen, München, Freiburg, Bremen und Berlin.

Im klassischen (weiblichen) Vokaljazz ist es ein ungeschriebenes Gesetz: jene gute alte Gepflogenheit, nicht der Dame, sondern den Herren (soweit es sich bei den Begleitern um solche handelt) Vortritt zu lassen. Dies baut zum einen die erwartungsfrohe Spannung bis zum Auftritt der Protagonistin auf, zum anderen können sich die Musiker warm spielen und solistisch profilieren, anschließend gilt die Aufmerksamkeit des Publikums ohnehin fast ausnahmslos der Sängerin. In Köln präsentieren sich zunächst die Musiker des Tommy Flanagan Quartetts, anschließend gesellen sich zwei Gäste zu ihnen: Tenorsaxophonist Eddie "Lockjaw" Davis und Trompeter Roy Eldridge.

Im Vorjahr hatte der Impresario, Produzent und Fitzgerald-Manager Norman Granz Pablo Records gegründet. Zu den wichtigsten auf dem Label vertretenen Künstlern gehörten - neben Oscar Peterson – Ella und Joe Pass. Ende 1973 war mit Virtuoso eine Solo-LP des Gitarristen und das am selben Tag aufgenommene Take Love Easy veröffentlicht worden, ein Duo-Album mit Fitzgerald und Pass. Und so hatte Granz ein veritables Interesse daran, nicht nur Ellas langjährigen Pianisten Tommy Flanagan (der alsbald auch auf Pablo veröffentlichen sollte), sondern eben auch Pass auf ihren Tourneen prominent zu featuren. Roy Eldridge und Eddie "Lockjaw" Davis gehörten ebenfalls zu den Pablo-Künstlern und wurden vor allem im Rahmen der von Granz bevorzugten All-Star-Jamsessions präsentiert. Drei Wochen vor dem Kölner Auftritt hatte Ella mit Davis, Pass und Flanagan das Album Fine and Mellow aufgenommen. 

Das Publikum in der Sporthalle erlebt also mehr als nur ein warm-up, eine Art kleines Jazz at the Philharmonic-Paket mit mehreren Solisten. Und so dauert dieses Präludium mit fünfunddreißig Minuten entsprechend länger als die üblichen Auftakte diverser Gesangsabende. Das Publikum bejubelt die instrumentalen Vorspiele, nicht so die Kölnische Rundschau: "Der erste Teil des Konzerts ließ Schlimmes befürchten, denn er wurde nur von den mitgebrachten Musikern bestritten. Sie alle wirkten bisweilen etwas verschlafen und müde. Doch dann rauschte die 'große' Ella im langen rosa Kleid mit Straußenboa auf die Bühne und wich eine geschlagene Stunde nicht von ihrem Platz."

Als die Dame, der von nun an das alleinige Interesse gilt, die Bühne betritt, ist der zweifelhafte Charme des Mehrzweckbaus vollends vergessen – nicht nur dank Ellas die Blicke auf sich ziehenden Äußeren: "Die ungastliche Sporthalle war bis in die Ränge hinauf besetzt ... Sind Jazzkonzerte mit den 'Altmeistern' wieder mehr gefragt als vor ein paar Jahren? Die ergrauten Schläfen vieler 'Fans' konnten an diesem Abend den Beweis dafür antreten." 

Die Frage des Rezensenten war nicht nur eine rhetorische. Hatten die Konzertbesucher auf Ellas Deutschland-Tourneen der frühen und Mitt-Sechziger Jahre ihr regelmäßig zu Füßen gelegen (Flanagan: "Dies war ihre große Zeit"), wusste die Sängerin nur zu genau, dass mittlerweile nicht nur in musikalischer Hinsicht ein anderer Zeitgeist herrschte: 1969 war Sarah Vaughan bei den Berliner Jazztagen von einem 68er-Publikum ausgebuht worden – ob ihres Standards-Repertoires und ihres an eine Opernsängerin erinnernden Ballkleides (sic!) -, 1973 wurde ebendort Duke Ellington ausgepfiffen. Doch Köln war und ist nicht Berlin und die rheinische Mentalität seit jeher eine andere. 

Dass sich die musikalischen Zeiten veränderten hatten, kommentiert Ella in "Different Kinds of Music", um dann sofort – und nicht ohne Botschaft – "It Don't Mean A Thing (If It Ain't Got That Swing)" anzuschließen. In Stücken wie diesen ist sie ganz zuhause, weniger in einem Titel wie dem dunkelblauen "Good Morning Heartache", der bei ihr allenfalls hellblau gerät: Ella ist keine Billie und ihre (musikalische) Frohnatur macht aus fast jedem Blues einen happy blues. In "Lemon Drop" scattet sie, als gäbe es kein Morgen mehr. "Gee, Baby, Ain't I Good To You" und "These Foolish Things" sind kammermusikalische Intermezzi mit Referenz an das gerade erschienene Duo-Album von Fitzgerald und Pass. Von Ella gesungen, durchläuft das Strandmädchen aus Rio eine Geschlechtsumwandlung und mutiert zum "Boy from Ipanema". Und bevor in "Just a Lucky So and So" Eldridge und Davis dazu stoßen und im anschließenden "Now's The Time " alle gemeinsam jammen, begeistert sie das Publikum mit dem Brecht/Weill-Klassiker "Mack the Knife", ohne dabei – wie einst in der legendären Ella in Berlin-Aufnahme – den Text zu vergessen. 

Am Ende konstatiert die Kölnische Rundschau euphorische Hochstimmung: "Der musikalische Vulkan Ella Fitzgerald bringt im Frage- und Antwortspiel mit den Instrumentalisten die Fans aus dem Häuschen. Jubel und frenetischer Applaus – das Publikum strömt zur Bühne, um die Zugaben aus nächster Nähe zu erleben."

Vor der letzten Zugabe fragt Ella ihr Publikum, was es zum Ausklang hören möchte. An Vorschlägen aus dem Auditorium mangelt es nicht. Was dann folgt (auf der vorliegenden Aufnahme nicht zu hören), hat einen Deutschland-Bezug, den die Rheinländer besonders goutieren - "Lorelei", jenes Lied über ein unweit auf einem Felsen die Rheinschiffer bezirzendes Wesen: 

"She created quite a stir/And I want to be like her/I want to be like that gal on the river/Who sang her song to the ships passing by/She had the goods and how she could deliver/The Lorelei."

Ignorieren wir getrost den laut Legende unausweichlichen tragischen Tod der Schiffer. Das vorausgesetzt, veranlasst die Schwärmerei eines hingerissenen Kölner Publikums zu der Annahme, dass Ella es war – die Loreley …

 

Karsten Mützelfeldt